D. Hattrup liest - C.F. von Weizsäcker: Wahrnehmung der Neuzeit: Einstein

Einstein (1979)
Stellen wir uns vor, es werde in einigen Jahrtausenden noch Menschen geben, die sich für die dann lange vergangenen Phasen menschlicher Geschichte interessieren, und fragen wir, welcher Name unseres Jahrhunderts die beste Chance habe, ihnen noch bekannt zu sein. Gewiß hat uns Zeitgenossen die Politik am meisten geschüttelt. Aber ihre Krisen und deren Träger werden dereinst überschattet sein von den Krisen und, wenn Gnade uns beisteht, Lösungen, die jetzt auf uns zukommen. Sollten Lösungen gefunden werden, so werden der Zukunft unsere radikalen Politiker zu inhuman, unsere humanen Politiker nicht radikal genug scheinen; vielleicht wird von den Großen unseres Jahrhunderts nur Gandhi vor ihrem Urteil bestehen. An die Kunst unserer Zeit wird man sich vielleicht als an einen Seismographen unserer Erdbeben erinnern. Die Erdbeben werden ausgelöst durch den technischen Fortschritt, und dieser ist ermöglicht durch die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist jedoch am größten und auch letztlich am wirksamsten, wo sie nicht technische Weltveränderung, sondern Wahrheit sucht. Der berühmteste Wissenschaftler unseres Jahrhunderts aber ist Einstein.
Würden auch wir Wissenschaftler unter uns ihn so als unseren Repräsentanten anerkennen? Betrachten wir seinen außerordentlichen Ruhm als verdient? Als Physiker hat er eine Chance, denn die Naturwissenschaft ist unter den Wissenschaften der erste Träger des neuen Weltbildes, und die Physik ist die Grunddisziplin der Naturwissenschaft. Die Physik hat im Anfang unseres Jahrhunderts zwei revolutionäre Schritte getan: die Relativitätstheorie und die Quantentheorie. Die eine der beiden Theorien ist Einsteins Werk, an der anderen war er in ihrer ersten Phase neben Planck und Bohr gleichrangig beteiligt. Einstein ist vielleicht auch deshalb der würdige Repräsentant unserer Zunft, weil er im Grunde dieser Zunft nie ganz angehört hat. Auf seine Umwelt wirkte er als naives Genie. Dabei war eben seine Naivität, die Natürlichkeit seiner Fragen, der Kern seiner Genialität. Er stellte jede Frage direkt; gewiß nicht in Verachtung des Wissens der Vernunft, aber nie aus dem gängigen Schema der Fragen der Vernunft heraus. Antworten konnten auch andere; er war ein Meister des Fragens. Und ein gleichsam unbewußter Meister: er konnte nicht anders als direkt fragen.
Wir feiern nun Einsteins hundertsten Geburtstag. Wie sollen wir ihn den Zeitgenossen darstellen? Was hielt er selbst für darstellenswert? Die neueste und wohl beste Biographie (B. Hoffmann und H. Dukas: ‚Einstein, Schöpfer und Rebell‘. Fischer Taschenbuch. 1978) erzählt: ‚Nachdem er bei einem gesellschaftlichen Ereignis zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gemacht worden war, stellte er betrübt fest: ‚Alles, was ich als junger Mensch vom Leben wünschte und erwartete, war, ruhig in einer Ecke zu sitzen und meine Arbeit zu tun, ohne von den Menschen beachtet zu werden. Und jetzt schaut bloß, was aus mir geworden ist.‘" Als Siebenundsechzigjähriger hatte er sich überreden lassen, eine kurze Autobiographie zu schreiben, die er - ‚mit Galgenhumor‘, sagt der Biograph seinen Nekrolog nannte. Die Sprache dieser Geschichte seines eigenen Lebens ist direkt, human, oft humorvoll, aber wovon berichtet sie?

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