"Gewaltfreier Protest funktioniert." Ein Talk Europe! Interview mit Judith Butler

Kann gewaltfreier Protest es schaffen, Aggression und Krieg zu beenden?
Und gibt es Zeiten, in denen Gewalt doch notwendig ist?
Die amerikanische Philosophin und Gendertheoretikerin Judith Butler hält gewaltfreien Protest für ein starkes und wirkungsvolles politisches Instrument, um Formen staatlicher Macht zu unterwandern und Veränderungen herbeizuführen.
Kann gewaltfreier Protest es schaffen, Aggression und Krieg zu beenden?
JUDITH BUTLER: Meiner Meinung nach ist es wichtig, gewaltfreien Protest als politisches Experimentierfeld und als Form öffentlichen Handelns aufrechtzuerhalten. Jede Protestbewegung steht vor der Frage, ob es ihr gelingt, den Einsatz von Gewalt so zu kontrollieren, dass er nur dazu dient, ein Regime zu stürzen, und danach wieder zur Gewaltlosigkeit zurückzukehren. Denn Gewalt kann schnell aus dem Ruder laufen. Kommt es erst einmal zu Gewalt, wird sie nachgeahmt und auch von anderen eingesetzt, als gäbe es eine Lizenz zum Einsatz von Gewalt. Das Problem besteht darin, dass viele Gewaltlosigkeit als ein äußerst schwaches politisches Instrument einschätzen. Ein Instrument, das seiner Aufgabe nicht gewachsen ist. Aber es gibt militante Formen von Gewaltlosigkeit, aggressive Formen von Gewaltlosigkeit. Wenn Menschen eine Barrikade bilden, eine menschliche Barrikade also, die die Polizei davon abhält, andere Personen abzuschieben, oder die Streikende schützt, dann ist das etwas Körperliches. Das ist … Das ist ein menschliches Hindernis, eine menschliche Barrikade, etwas Starkes und Wirkungsvolles. Nur einfach ohne Gewalt.
Was ist effektiver Protest für Sie? Politischer Aktivismus in sozialen Medien? Gewaltfreier Widerstand?
JUDITH BUTLER: Das kommt auf Gegenstand und Ort des Protestes an. In Erdogans Türkei gibt es viele Regimekritiker, die sich aber nicht trauen, auf die Straße zu gehen oder ihren Widerspruch gegen die Regierungspolitik von Zensur und Vertreibung zu äußern. Die sozialen Medien sind sehr wichtig für sie, ebenso wie verschlüsselte Kommunikationsformen über Mobiltelefone. Diese Gruppen verfügen durchaus über interne Kommunikationsnetzwerke. Sie operieren nur ganz anders.
Wann kann man bestimmte Formen von Gewalt als Teil eines bewundernswerten Freiheitskampfes sehen, wann stuft man sie als Terrorismus ein? Die Grenze scheint wohl ein schmaler Grat zu sein.
Antonio Gramsci hat gesagt, der Staat betrachte seine eigene Gewalt stets als gerechtfertigt. Bei ihm wird das als „Zwang“ bezeichnet. Es ist verständlich, dass man sich physisch verteidigt, wenn man angegriffen wird. Aber die Frage ist natürlich, ob es in dieser Welt, unserer globalisierten Welt, nicht viel effektiver ist, internationale Unterstützung für den eigenen Freiheitskampf oder Kampf gegen Unterdrückung zu erlangen, als eine militärische Strategie zu verfolgen, die nur den militärischen Gegner provoziert und stärkt. Ich bin manchmal verblüfft, wenn Kriegsparteien beschließen, ihre Waffen niederzulegen und dem Konflikt eine Pause zu gönnen. Nach dem Motto: „Okay, dann bekriegen wir uns mal nicht. Seid ihr einverstanden? Drei Tage lang bekriegen wir uns nicht, damit diese Menschen hier wegkönnen oder wir ein Krankenhaus aufmachen können. Okay, geht in Ordnung.“ Warum geht das nicht auch fünf Tage lang? Zehn oder 20 Tage lang? Wieso nicht ein Jahr? Vielleicht sogar fünf Jahre?
In den USA hat gewaltfreier Protest eine große Tradition. Und die Anti-Trump-Bewegung, die auf Gewalt verzichtet, wächst ständig an: Immer häufiger protestieren immer größere Gruppen. Halten Sie das für den richtigen Weg, gegen diese Regierung vorzugehen?
JUDITH BUTLER: Denken wir mal darüber nach, was das bedeutet. Als er erstmals den sogenannten Muslim Ban aussprach, belagerten viele Menschen die Flughäfen. Sie legten die Flughäfen lahm. Sie riefen einen Streik aus. Das waren äußerst kraftvolle Aktionen. Und ohne jegliche Gewalt. Es ist uns nicht gelungen, ihn aufzuhalten. In den letzten Tagen hatte er ja zu verantworten, dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden, aber wir müssen einen klaren Kopf behalten: Wer sind unsere Verbündeten, was sind unsere politischen Instrumente, wie können wir uns das Gesetz zunutze machen? Wir müssen unsere eigenen Kandidaten aufstellen und einen eigenen Plan entwickeln. Wir können nicht einfach nur gegen ihn sein. Wir müssen eine alternative Zukunftsvision entwerfen und wir müssen diese Zukunft so gestalten, dass sie für die Mehrheit der Bevölkerung im Land zutiefst erstrebenswert ist.

Пікірлер: 4