Das Treibhaus, das per U-Bahn kommt. Selbstbauprojekt von 160 Studierenden der Universität Stuttgart

Das Treibhaus, das per U-Bahn kommt: ein Selbstbauprojekt von 160 Studierenden im 2. Semester an der Universität Stuttgart, Modul »Bautechnische Grundlagen«
Die Evangelische Gesellschaft Stuttgart (eva) führt als sozialer Träger das Immanuel-Görzinger-Haus für ehemals suchtkranke Männer und bietet den Bewohnern zur Festigung der Lebenspraxis die Mitarbeit in der angeschlossenen Gärtnerei an. Für diesen Ort entwarfen die Studierenden ein Treibhaus aus Holzleisten und Brettern. Dies erfolgte in Abwägung verschiedener historischer Tragstrukturen, die als »Konstruktionspaten« zur Verfügung standen. Diese aufgelösten Konstruktionen bieten bei minimalem Materialverbrauch maximale Spannweiten.
Die Konstruktionspaten im Einzelnen:
Hebelstabwerk: Eine biegebeanspruchte, verbindungsmittelfreie Konstruktion der Renaissance.
L’Ormesche Bohlenbinder: Eine Brettkonstruktion zur Überwindung großer Spannweiten mittels kurzer, verdübelter Bretter. Diese Konstruktion reflektiert die Holzknappheit im Frankreich des 16. Jahrhunderts und erhielt durch Gilly im 18. Jahrhundert weite Verbreitung und Anerkennung.
Fachwerkträger / Lattenträger: Die stabförmige Auflösung des Biegträgers auf Grundlage des Tow’schen Lattenträgers in zug- und druckbeanspruchte Stäbe.
Sprengwerk: Eine Tragkonstruktion, bei der die Lastableitung z. B. eines Biegebalkens durch druckbeanspruchte Streben abgeleitet wird.
Hängewerk: Eine Tragkonstruktion, bei der die Lastableitung z. B. eines Biegebalkens durch zugbeanspruchte Pfosten abgeleitet oder unterstützt wird.
Zollinger Dach: Eine rautenförmige Gitterschalenkonstruktion von Friedrich Zollinger zur Reduktion des Holzverbrauchs gegenüber herkömmlichen Dachtragwerken.
Auf der Basis und im Verständnis der genannten Konstruktionen entstanden innerhalb eines Nachmittags skizzenhafte Stegreifenwürfe der Studierenden, die im direkten Vergleich auf ihre Sinnhaftigkeit und Ausdruckskraft beurteilt wurden. Aus drei Entwürfen wurde jeweils ein Entwurf zur Weiterbearbeitung ausgewählt. In Dreiergruppen entstanden dann insgesamt 60 Konstruktionsmodelle im Maßstab 1:10. Innerhalb eines abwägenden Prozesses mit Studierenden und Lehrenden wurden aus diesen Konstruktionsmodellen wiederum 22 Modelle für die Realisierung im Maßstab 1:1 evaluiert.
In Teams von jeweils sieben Studierenden wurden die Entwürfe nun aus
Dachlatten und einfachen Brettern mit einer Maximallänge von 1,25 Metern realisiert. Dabei war eine komplett elementierte Vorfertigung zu beachten, deren Abmessungen auf den Transport zum Baufeld per U-Bahn abzustimmen waren. Nach einem Probeaufbau auf dem Gelände der Universität wurden die Konstruktionen mittels »Modellstatik« untersucht. Zum Nachweis der Gebrauchstauglichkeit der Tragwerke wurden Horizontal- und Vertikallasten eingeleitet, die Tragfähigkeit überprüft und die jeweiligen Verformungen vermessen und kartiert.
Die Lasteinleitungen erfolgten durch Sandsäcke mit einer Last von jeweils zehn Kilogramm. Insbesondere die festgestellten Durchbiegungen zeigten deutlich, welche Tragkonstruktionen noch verbessert werden mussten.
Nach den statischen Tests wurden die Tragwerke in ihre Elemente zerlegt
und mittels U-Bahn zur Gärtnerei am Immanuel-Görzinger-Haus transportiert. Vor Ort mittels weniger Verbindungen wieder zusammengefügt, wurden die Rahmenkonstruktionen auf zwei Längsschwellen aus Douglasie gesetzt und mit den Nachbarrahmen
zu einem insgesamt 25 Meter langen Treibhaus montiert. Im Anschluss
wurde die Konstruktion mit einer stofflichen Haut versehen und in einem kleinen Festakt den Nutzern übergeben. Mit dem Akt der Handlung wurde theoretisches Wissen mit dem Testfeld der Praxis konfrontiert, Leibliche Betroffenheit wird hier als Aktionsraum erlebbar.
Text: Prof. Jens Ludloff

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